Sprachvereinfachung

Was wir in den letzten Monaten über die Leichte Sprache und die Sprachvereinfachung gelernt haben

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Verständlichkeit ist ein dynamisches Konzept.

Laut DIN SPEC 33429:2023-04 richtet sich die Leichte Sprache an Menschen mit Lernschwierigkeiten: Durch „Übersetzung“ in Leichte Sprache können anspruchsvolle Texte sowohl inhaltlich als auch sprachlich so vereinfacht werden, dass sie für Menschen mit Lernschwierigkeiten keine Kommunikationsbarriere mehr darstellen. Linguistisch zeichnet sich die Leichte Sprache durch Vereinfachungen im Satzbau und Vokabular und eine Reduktion der verfügbaren sprachlichen Mittel aus (beispielsweise wird empfohlen, nur die Tempora Präsens und Perfekt zu verwenden; Präteritum, Plusquamperfekt und Futur sollen vermieden werden). Diese Einschränkungen sollen es Menschen, denen die Aufnahme und Verarbeitung von Informationen schwerfällt, dennoch ermöglichen, Texte zu lesen und zu verstehen und damit am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen (einen ausgezeichneten Überblick über unterschiedliche Aspekte der Leichten Sprache und Textverständlichkeit bieten Bock und Pappert, 2022).

Was Regeln und Empfehlungen wie die der DIN SPEC zu suggerieren scheinen, ist, dass „Verständlichkeit“ bereits durch die Einhaltung einer Handvoll relativ simpler Regeln herzustellen sei. Dies wäre aber nur der Fall, wenn die „Menschen mit Lernschwierigkeiten“ eine homogene Gruppe wären, was ganz klar nicht der Fall ist, denn besagte Schwierigkeiten können unterschiedliche Ursachen und Ausprägungen haben, zumal alle Menschen im Laufe ihres Lebens zahlreiche individuelle Erfahrungen machen, die sich auf ihre Kenntnisse und Fähigkeiten niederschlagen. Grundsätzlich mag es also Leser und Leserinnen geben, deren Bedürfnisse durch die Leichte Sprache optimal bedient werden. Dies wird aber nicht immer der Fall sein: Aus der psycholinguistischen Leseforschung wissen wir zudem seit Langem, dass Lesen und Verstehen an ein ganzes Konglomerat komplexer Prozesse geknüpft sind, z. B.:

  • die visuelle Wahrnehmung sprachlicher Zeichen,
  • die korrekte linguistische Analyse von Sätzen und Texten auf den Ebenen des Wortschatzes, des Satzbaus und der Grammatik,
  • die Speicherung des bereits Gelesenen im Kurzzeitgedächtnis mindestens so lange, bis eine lokale Teilanalyse und -interpretation vorliegt,
  • die Integration in den bereits vorhandenen Wissensbestand bzw. vorab das Füllen von Wissenslücken, wenn dies für das Verständnis des Textes erforderlich ist,
  • bei handlungsanweisenden Texten: die Übertragung des Gelesenen in eine konkrete und im Sinne der Zielerreichung korrekte Aktion.

Im Hinblick auf die Nutzerinnen und Nutzer der Leichten Sprache lässt sich kaum vorhersagen, wie die o. g. Fähigkeiten bei unterschiedlichen Personen jeweils ausgeprägt sind – hier wird es, wie auch in der übrigen Bevölkerung, eine Vielzahl von Abstufungen geben. Deutlich wird jedoch aus unserer Analyse, dass von unterschiedlichen Aspekten der Sprachvereinfachung ganz unterschiedliche und potenziell sehr viele Menschen profitieren können, wenn „Verständlichkeit“ dynamisch aufgefasst und nicht ausschließlich auf die Einhaltung der Regeln der Leichten Sprache reduziert wird:

  • Barrierefreie Darstellungsmittel wie eine größere Schrift, größere Zeilenabstände oder auch eine Vorlesefunktion können Menschen mit Wahrnehmungsproblemen wie beispielsweise einer Sehschwäche oder möglicherweise auch einer Legasthenie helfen. Eine moderate Sprachvereinfachung könnte zudem die Vorlesbarkeit von Texten verbessern.
  • Einfache sprachliche Strukturen sind für alle Menschen leichter zu verarbeiten als komplexe Strukturen. Die Leichte Sprache macht dies für Menschen mit Lernschwierigkeiten besonders deutlich. Allerdings können auch Menschen, deren sprachliche Fähigkeiten noch nicht ausreichen, um komplexe Texte zu verarbeiten – beispielsweise Kinder oder Sprachlerner – ebenfalls von einer milderen Reduktion der sprachlichen Komplexität profitieren.
  • Probleme mit der Integration des Gelesenen im Kurzzeitgedächtnis können nicht nur Menschen mit Lernschwierigkeiten haben, sondern auch ältere Menschen, insbesondere wenn sie unter einer neurodegenerativen Erkrankung leiden, oder Menschen mit Lese-Rechtschreibschwäche. Hier helfen visuelle und sprachliche Gliederungssignale im Text und eine logische und einfach nachvollziehbare Strukturierung der Information.
  • Hilfestellungen auf der Informationsebene in Form zusätzlicher Erläuterungen schließlich können insbesondere in fachlichen Kontexten allen Menschen helfen.

Diese Überlegungen müssen z. T. natürlich noch wissenschaftlich untermauert und konkretisiert werden, stützen aber den Gedanken, dass „Verständlichkeit“ einerseits keine statische Größe ist und dass andererseits von einer dynamischen Auffassung des Begriffs noch viel mehr Menschen profitieren könnten als ursprünglich gedacht. Wenn wir uns nun Texte in Leichter Sprache anschauen, sehen wir tatsächlich, dass Übersetzerinnen und Übersetzer das Regelwerk der Leichten Sprache recht unterschiedlich interpretieren und anwenden. Empirische Studien unter Einbezug von Nutzerinnen und Nutzern der Leichten Sprache wie etwa das LeiSA-Projekt (Bock 2019) stützen diese Beobachtung und zeigen zudem, dass Menschen mit Lernschwierigkeiten – wie oben angenommen – nicht homogen, sondern individuell unterschiedlich auf Texte reagieren und nicht immer die Vollausprägung aller Regeln brauchen. Anstelle einer starren Fokussierung auf Regeln empfehlen Wissenschaftler (z. B. Bock und Leskelä, 2024) deshalb stets auch eine Orientierung am Kommunikationskontext – dem Zweck und Inhalt sowie den Voraussetzungen der Kommunikation –, der konkret angesprochenen Zielgruppe und ihren Bedürfnissen sowie der Textsorte und Textfunktion, um die es eigentlich geht. Teilweise geht auch die DIN SPEC auf diese Aspekte ein.

Wir setzen auf Adaptivität und Abstimmung mit den Nutzerinnen und Nutzern.

Aus den genannten Gründen fassen wir das Konzept „Sprachvereinfachung“ nicht statisch auf, sondern streben eine adaptive Vereinfachung von Texten an: Nutzerinnen und Nutzer sollen möglichst selbst wählen können, wie stark unser Übersetzungssystem einen Text vereinfacht und ob sie beispielsweise die visuelle Trennung langer Wörter brauchen oder nicht. Auf diese Weise stellen wir nicht nur die selbständigen Entscheidungen von Nutzerinnen und Nutzern mit ihren individuellen Lesebedürfnissen in den Vordergrund. Wir öffnen das Konzept „Verständlichkeit“ auch für Nutzergruppen, die sich nicht unter "Menschen mit Lernschwierigkeiten" subsumieren lassen. 

Die adaptive Vereinfachung eines Satzes könnte dann zum Beispiel so aussehen (wir zeigen aktuelle Ausgaben unseres Übersetzungsmodells):

Mit der „starken Vereinfachung“ orientieren wir uns an der Leichten Sprache, mit der „milden Vereinfachung“ eher an der Einfachen Sprache. Mindestens diese beiden Optionen sollen Nutzerinnen und Nutzer zur Verfügung stehen. Aktuell arbeiten wir zudem an weiteren Anpassungsmöglichkeiten, mit denen Nutzer ihr Vereinfachungsergebnis personalisieren können:

  • Beispielsweise wollen wir die visuelle Trennung langer, komplexer Wörter (Mediopunkt) je nach Nutzerbedürfnis zu- oder abschaltbar machen.
  • Außerdem arbeiten wir an einer lexikalischen Adaptivität unserer Outputs. Das bedeutet, dass Nutzer und Nutzerinnen mit unserem Modell gezielt auf Wortebene Vereinfachungs-Outputs anpassen können.

All diese Ansätze ersetzen allerdings nach wie vor nicht den Austausch mit potenziellen Nutzern unserer Vereinfachungslösung. In unserem „Civic Innovation“-Förderprojekt arbeiten wir daher eng mit der Stiftung Pfennigparade zusammen, um sicherzustellen, dass unsere Übersetzungsergebnisse den Anforderungen von Leserinnen und Lesern gerecht werden. Eine Nutzerstudie ist aktuell in Vorbereitung. Wir unterstützen das unlängst veröffentlichte Positionspapier der Gruppe Bayern des Netzwerks Leichte Sprache, in dem zwei wesentliche Punkte unterstrichen wurden:

  • dass KI-gestützte Übersetzungs- und Prüfsysteme Redakteurinnen und Prüfgruppen nicht ersetzen, ihnen aber die Arbeit erleichtern können,
  • dass die Angehörigen der Zielgruppe(n) in die Entwicklung dieser Systeme einbezogen werden müssen.

Es bleiben Fragen offen.

Wir haben in den letzten Monaten und Jahren viel gelernt. Dennoch bleiben Fragen offen. Einer der wesentlichen offenen Punkte ist die Evaluation – also die Qualitätsbewertung – von KI-basierten Vereinfachungen: Wir müssen abschätzen können, wie „gut“ der Output eines KI-Systems ist. Die Bewertung durch Prüfgruppen ist sinnvoll in individuellen Kontexten. Wenn wir aber im großen Stil ermitteln wollen, ob KI-Systeme sicher sind, und wenn wir sie miteinander vergleichen und optimieren wollen, dann benötigen wir – ähnlich wie in der maschinellen Fremdsprachenübersetzung – Metriken, die automatisch berechnet werden können. Diese müssen mindestens zwei Aspekte berücksichtigen:

  • Die sprachliche Korrektheit automatisch erzeugter Vereinfachungen: Wir wollen feststellen, ob die Outputs grammatisch korrekt und auch verständlich sind.
  • Die inhaltliche Korrektheit automatisch erzeugter Vereinfachungen. Hier geht es darum zu prüfen, ob die Vereinfachung die wesentlichen Inhalte des Ausgangstextes korrekt wiedergibt.

Hier gibt es noch viel zu tun. In der Community wird die sprachliche Ebene häufig mit Hilfe des sogenannten Hohenheimer Verständlichkeitsindexes oder HIX bewertet. Dieser Wert ist allerdings nur eine sehr schwache Metrik, die im Wesentlichen auf Wort- und Satzlängen beruht und beispielsweise über die grammatische Ebene keinerlei Aussage zulässt. Auch die Einhaltung der Regeln der Leichten Sprache prüft sie nicht. In unseren Experimenten, in denen wir händische Evaluationen mit mehreren automatischen Metriken verglichen haben, konnten wir zudem überhaupt keine Korrelation zwischen unseren manuellen Expertenbewertungen und HIX feststellen. Wir verwenden den Score deshalb für unsere Arbeit gar nicht.

Die zweite, inhaltliche Ebene wird zudem in der Community bislang fast gar nicht betrachtet, und dies, obwohl aktuelle Studien (Deilen et al., 2024; S. 469 ff.) zeigen, dass am Markt verfügbare Systeme teils erhebliche Probleme mit der inhaltlichen Korrektheit haben. Diese Ebene muss deshalb dringend betrachtet werden und Systemhersteller haben hier für Transparenz zu sorgen, am besten durch transparente und miteinander vergleichbare Benchmarks. Wir werden jedenfalls an beiden Aspekten intensiv weiterarbeiten.

Ganz am Ende bleibt zudem die Frage, ob sich wirklich jeder Text maximal vereinfachen lässt. In unserer Auseinandersetzung mit der Leichten Sprache haben wir feststellen müssen, dass viele Texte und Textsorten (z. B. journalistische Glossen und Kommentare, Theaterstücke, wissenschaftliche Beiträge, Verträge u. v. m.) noch gar nicht in die Leichte Sprache übertragen wurden. Wenn dies nun dank KI-Unterstützung denkbar wird, stellt sich die Frage, wo eigentlich die Grenzen des in Leichter Sprache Sagbaren liegen bzw. ob es diese Grenzen gibt.

Wir werden es herausfinden.

Literatur: